Kunst in der Kartause "Essenz" Sommer 2016 - Karthaus
Der Kulturverein Schnals präsentiert in der Kartause vom 17. Juli bis 21. August 2016 den Südtiroler Künstler Reinhold Tappeiner. Die Ausstellungseröffnung findet am Samstag, den 16. Juli um 18.00 Uhr statt. Thema der Ausstellung ist der menschliche Leib, der nach einer Krise wieder aufersteht. Reinhold Tappeiner, der vor allem als Maler bekannt ist, wählt für diese Ausstellung die Ausdrucksform der Zeichnung, um den wesentlichen Kern der Bildinhalte zu betonen. Bestandteil der Ausstellung sind Originalbeiträge des Schriftstellers David Wagner. Kuratiert wird die Ausstellung von Toni Bernhart.
Leporello
Ich kann nicht aufstehen, ich kann nicht gehen, ich kann gar nichts. Im Liegen schaue ich an die Decke, und die Decke schaut zurück. Manchmal starre ich zur Abwechslung die Wand an, auch die Wand starrt zurück. Mein Bettnachbar schläft, ich höre ihn leise schnarchen.
Zwei oder drei Stunden starre ich die glasgraue Wasserflasche auf dem Nachttisch an. Ich mag ihre Silhouette, ich mag die Banderole aus Papier. Stolz sieht sie aus, die Flasche. Ich glaube, sie leuchtet.
Und ich merke, es ist gar nicht so schwer, die Dinge so lange anzusehen, bis sie etwas ganz anderes bedeuten. Allerdings weiß ich nicht unbedingt, was.
Wohin ich auch sehe, ich sehe Stilleben. Weil ich so viel Zeit habe? Viel zuviel? Und so lange auf die Wand, auf meinen Nachttisch und die Wasserflaschen, Saftpackungen und ungelesenen Bücher starren kann, bis alles, was ich anstarre, zum Stilleben wird? Vielleicht will ich nur noch Stilleben sehen, weil sie auf französisch natures mortes heißen? Dazwischen dämmere ich dahin, faul und müde. Ich warte, dabei habe ich keine Lust mehr zu warten. Ich weiß nicht mehr, worauf.
Ich schaue zur Wand und zum Schrank, zum stummen Fernseher hinauf und auf die beiden Bilder, die ich immer übersehe. Ich schaue zum Nachttisch neben dem Bett und zum Armaturenbrett mit den Knöpfen, von denen nur ein einziger funktioniert – der, mit dem ich das Licht ein- und ausschalten kann. Vom Meer keine Spur, ich liege nicht am Pazifik, sehe stattdessen Wipfel vor dem Fenster, warte nur, balde, draußen spielt das Jahreszeitentheater, gibt eine Vorstellung, das Stück heißt noch immer Herbst, jeden Morgen hängen weniger Blätter in den Bäumen. Deshalb nun auch freie Sicht auf ein Gebäude, das in einiger Entfernung jeden Tag ein bißchen wächst, so sieht Fortschritt aus. Angefangen hat es als Stahlgerüst, nun leuchtet ein großer gelber Kubus über die Ringbahngleise. Ein Versprechen.
Reinhold Tappeiners großes Thema ist der menschliche Leib. Sei es in seiner Malerei, in seinen großen Tafelbildern, seinen Performances oder seiner Graphik wie in dieser Ausstellung Essenz – immer ist der Leib präsent, doch nicht als Draufblick, sondern als Durchblick, als Einblick. Tappeiner zeigt den Leib von innen, er zeigt ihn in Fasern und Zerfaserung, vielleicht sind es Nerven, Venen, Knochen oder Lymphgefäße, die er zeigt, auf jeden Fall innere Verstrebungen und Verbindungen, geheime Knoten vielleicht.
Die Ausstellung Essenz zeigt zwanzig Arbeiten aus den letzten drei Jahren, hauptsächlich Graphiken, aber auch Malerei. Integraler Bestandteil der Ausstellung sind Originalbeiträge des Berliner Schriftstellers David Wagner, die in Zusammenhang mit dessen Roman Leben (2013) stehen. Impetus sowohl für Tappeiners Arbeiten als auch für Wagners Texte ist eine Krise des Leibes, die im Darstellen und Erzählen durchgelebt und überwunden wird. Manchmal ist da auch ein Schalk, der aufblitzt.
Am Anfang steht der Leib. Hinzu kommt der Raum, der sich in der menschlichen Wahrnehmung nach den drei Dimensionen der Horizontalität, Vertikalität und Lateralität erstreckt. Zentrale Motive in Tappeiners Bildern sind die Liege, die Stütze und das Seil. Sie erzählen von Liegen und Lagerungen, von Fallen und Sicht-Aufrichten, von Stehen und Gehen und Gehalten-Werden. Die Intensität des Ausstellungsortes, der Kartause Allerengelberg, gibt eigentlich schon vor, wie eine Ausstellung hier zu hängen ist. Die einzelnen Nischen des Kreuzgangs sind tafelartig, in ihrer Summe wirken sie seriell und dynamisch. Tappeiners Bilder, so scheint es mir, passen in ihrer Essenz und Verwesentlichung vorzüglich an diesen geistigen und geistlichen Ort und treten mit ihm ins Gespräch. Der Ort rahmt die Bilder und die Bilder rahmen den Ort.
Reinhold Tappeiner wurde 1959 in Schlanders geboren und lebt in Laas (Südtirol/Italien). Er absolvierte die Kunstschule in Gröden und die Accademia di Belle Arti di Urbino. Seine vertrauteste Form ist die Malerei, aber auch in Graphik, Installation und Performance drückt er sich aus. Er zeigte Einzelausstellungen in Italien, Österreich, Deutschland und der Schweiz und war in zahlreichen Gruppenausstellungen vertreten. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit war er von 2001 bis 2009 Vertragsprofessor für Zeichnen an der Freien Universität Bozen, seit 1984 lehrt er an der Bildhauerschule „J. Steinhäuser“ in Laas. Reinhold Tappeiner wurde 1997 mit dem Graphikpreis Fabio Bertoni per l’incisione ausgezeichnet, ausgeschrieben von der Kunstakademie Urbino. Mit dem Preis verbunden war die Vermittlung von zehn seiner Arbeiten an Museen im In- und Ausland. Zusammen mit Dietrich Oberdörfer und Ferruccio Bartoletti, die Kompositionen nach seinen Bildern schufen, veröffentlichte er die DVD Seismograph (2007). Über ihn erschien 2005 die Monographie Reinhold Tappeiner Malerei, Werke von 1999-2005. Die von der boesner holding + innovations herausgegebenen Kunstwelten II (2013) veröffentlichten eine Auswahl seiner Werke.
www.reinhold-tappeiner.com
David Wagner, geboren 1971, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften in Bonn, Paris und Berlin. Im Jahr 2000 erschien sein Roman Meine nachtblaue Hose, es folgten u.a. die Bücher Spricht das Kind, Vier Äpfel und Welche Farbe hat Berlin. Sein Roman Leben wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2013 und dem Best Foreign Novel of the Year Award 2014 der Volksrepublik China ausgezeichnet. 2014 war er Friedrich-Dürrenmatt-Professor für Weltliteratur an der Universität Bern. Zuletzt erschien Sich verlieben hilft. Über Bücher und Serien. David Wagner lebt in Berlin.
Toni Bernhart, geboren 1971, ist Literaturwissenschaftler und Theaterautor und lebt in Berlin und Stuttgart. Seit 2015 leitet er das Forschungsprojekt „Quantitative Literaturwissenschaft“ an der Universität Stuttgart. Vorher war er an der Freien Universität Berlin und an der Universität der Künste Berlin tätig. Er schrieb die Stücke Lasamarmo, Langes afn Zirblhouf, Martinisommer, Gschmugglt weart nicht mea und Rita und verfasste zahlreiche literaturwissenschaftliche Beiträge.